K'lautern

Grauer Beton bestimmte sein Blickfeld, egal wohin er ging, es war tiefstes Grau. Überall Beton, überall Asphalt. Und auch der Himmel trug immer Trenchcoat. Unablässig lief der Regen die unverputzten Mauern herunter. Platsch, platsch, platsch. Die ganze Straße stand unter Wasser, Pfützen waren nicht mehr erkennbar, ein dunkles, kaltes Meer zeichnete sich zwischen den Häuserwänden ab. Die wenigen Autos ließen bläuliche Ölspuren zurück. Folgte er diesen Spuren, entkäme er dann dieser tristen Stadt?

Familie Wendt saß beim Abendbrot. Es gab Schnittchen. Der Wind zischte an den Fensterläden vorbei, sagte kurz Hallo und verschwand. Nur die Regentropfen am Glas blieben stumme Zeugen der Szenerie. Die Lampe über dem Tisch zeichnete das Zimmer in ein Gelb, das auf Dauer krank macht. Die Tischdecke war einmal bläulich gefärbt, nun erschien sie so grau, wie die fette Schicht Leberwurst auf der Stulle seines Vaters. Akkurat teilte dieser sie in kleine, mundgerechte Häppchen, so dass sie in seinen schmalen, kurzen Mund passten. Sein Vater sagte nichts, seine Mutter fragte nichts. Sie ließen ihn in Ruhe und zeigten ihm doch mit ihrem Verhalten, was erlaubt war und was nicht.

Nach dem Essen stieg er die mit einem karierten Teppich besetzte Treppe hoch zu seinem Zimmer. Auf halbem Weg guckte er hinunter zu seinen Füßen und konnte seine Haussschuhe nicht vom Muster des Teppichs unterscheiden. «Gut angepasst», dachte er. Oben angekommen schmiss er sich auf sein Bett, das Licht machte er erst gar nicht an. Durch den offenen Türspalt ertönte von unten eine aufgeregte Radio-Stimme und ließ auf ein spannendes Spiel schließen. Doch mithören durfte er nicht. Sein Vater saß allein auf dem Ledersofa und wollte nicht gestört werden, so wie immer. Er lauschte dem Spiel. Sein Blick ging vom Bierglas in seiner Hand und dem Empfangsgerät hin und her. Und mehr passierte nicht.

Nun schloss der Junge die Tür und trat an seine Dachluke. Er schob den Riegel beiseite. Wie in Zeitlupe fiel der feine Regen auf seine Haare und in sein Gesicht. So stand er da. Mit seinen Hausschuhen und den Händen bewegungslos in den Hosentaschen. Er schloß die Augen. Komplette Dunkelheit umhüllte ihn nun. Und plötzlich hörte er in der Ferne ein wildes Jubelgeschrei erklingen. Er öffnete die Augen und sah am Himmel einen blauen-weißen Lichtschimmer. Zwischen all den dunklen Häusern, all den dunklen Wolken, all der harten Watte in seinem Viertel erblickte er etwas, was dort nicht hingehörte.

Im Nu kletterte er aus der Luke hinauf aufs Dach, sprang von dort hinunter auf den frisch gestutzten Rasen und folgte dem Lichtschein. Es dauerte keine fünf Minuten und schon stand er an der Quelle. Er war geflogen, über Matsch und Wasser. Triefend und mit laufender Nase stand er vor einem leerstehenden, noch vom Krieg zerstörten Haus. Der Lichtschein kam aus der obersten Etage, er hob seinen Blick und ein Stimmgewirr prasselte auf ihn hinab. Schon war er im Haus und erklomm die ersten Treppenstufen. Auf dem Weg nach oben musste er immer wieder über fehlende Stufen springen und zerborstenem Holz ausweichen. Seine Hausschuhe waren nass und dreckig wie eine Ratte nach dem Baden in der Kanalisation. «Ach, die Schuhe», schmunzelte er. Er verschwendete keinen Gedanken an die Reaktion seiner Eltern. Er kam seinem Ziel immer näher. Der nassen und verfaulten Luft schwang jetzt ein eigenartiger Geruch mit. Leicht süßlich, so ganz anders als der strenge Zigarettenrauch seines Vaters.

Und da stand er in der offenen Wand und blickte in das zerstörte Zimmer. Mit weiten Augen sah er eine Horde Jugendlicher, Jungs und Mädchen, überall herumliegend, aber alle mit Blick zum kleinen Fernseher, der an der einzig noch stehenden Wand lehnte. Bier spritze herum, Rauchschwaden standen in der Luft. Dazu stimmte die Gruppe immer wieder lautstark und lallend Anfeuerungsrufe an. Es dauerte keine Minute, da wurde der Junge von einem Mädchen mit Janis Joplin-Mähne an der Hand gepackt und in den Kreis hineingezogen. «Du bist doch für den MSV?!», befahl sie mehr als sie fragte. Der Junge konnte sein Glück kaum fassen. Die Truppe guckte doch tatsächlich das Pokal-Endspiel zwischen Bayern München und dem Meidericher SV. «Darfst du schon Bier trinken?», fragte das Mädchen den Jungen. «Ach, egal, hier probier mal».

Es lief die 72. Spielminute, der MSV lag 2:1 hinten. Der Junge kostete seinen ersten Schluck Bier, das Mädchen lächelte ihm verschwörerisch zu. Da plötzlich schoss Hartmut Heidemann den Ausgleich! Die Gruppe fiel übereinander her, ein menschliches Knäul knarzte über die Dielen, den jubelnden Spielern im Fernseher in Nichts nachstehend. Und mittendrin der Junge, eine Hand fest die Bierflasche umklammernd, in der anderen die Hand des fremden Mädchens, die wilde Freudenschreie ausstieß. Doch da spürte der Junge auf einmal die harte Hand eines Erwachsenen an seinem Schopf. Mit einem Schlag zog sie ihn aus dem Getümmel. Er baumelte in der Luft. Vor ihm, Nase an Nase, stand sein Vater mit eiskaltem Gesichtsausdruck. «Wer hat dir das erlaubt?», schrie und spie dieser seinen verdutzten Sohn an. Es dauerte keine fünf Minuten und der Junge war wieder eingesperrt in seinem Zimmer.

Ähnliche Gruppen von Fußballfans sollten dem Jungen in seinem späteren Leben noch oft begegnen. Jedoch auf ganz andere Weise als an dem geschilderten Tag.